Warum immer London?
London ist verbranntes Pflaster. Zumindest, wenn Ubisoft ein Spiel in meiner Lieblings-Welthauptstadt ansiedelt. Dabei ist weder im unsäglichen Assassins Creed: Syndicate, noch im neuen Watch Dogs: Legion die Spielwelt das Problem. In beiden ist die Stadt phänomenal gestaltet und strotzt nur so vor Detailreichtum. Und dennoch wollen die Spiele hinter der, im modernen London, wortwörtlich glänzenden Fassade einfach nicht zünden. Doch Legion hat Potenzial für die Zukunft, vielleicht sogar für das gesamte Open-World Genre.
Eins vorneweg: Ich mag die Watch Dogs Reihe. Ich konnte auch über den so extrem stark von den Präsentationen abweichenden Erstling hinwegsehen. Und auch mit dem zweiten Teil, über dessen Cast besonders häufig die Nase gerümpft wird, hatte ich meinen Spaß. Genauso wie mir Legion häufig viel Freude macht. Doch der neueste Streich aus Ubisofts Open-World Reihe hat meiner Meinung nach zu eklatante Mängel, um noch über sie hinwegzusehen.

Absolute Belanglosigkeit
Das beginnt bereits mit DEM Spielsystem des Neulings: Der Tatsache, das man jeden beliebigen Charakter rekrutieren und spielen kann. Angepriesen wurde das Ganze als ein neues Feature, welches völlig neue Möglichkeiten eröffnet, wie man das Lösen von Aufgaben und die Erkundung der Spielwelt herangehen kann. Und tatsächlich, manche Charaktere bringen einzigartige Fähigkeiten wie einen Bienenschwarm oder schwere Geschütze wie einen Granatwerfer mit. Denn tödliche Schusswaffen können jetzt nicht mehr von jedermann benutzt werden, sondern gelten als Mitbringsel neuer Rekruten.
Doch genau wie die besonderen Fähigkeiten, ist noch nicht einmal dies eins: Von Relevanz. Denn mithilfe von sammelbaren “Tech-Points” kann ich mir nicht nur neue allgemeingültige Skills, sondern auch neue Waffen wie eine Schock-MP oder Schrotflinte freischalten, welche richtigen Sturmgewehren in nichts nachstehen. Auch Dinge, wie die Möglichkeit feindliche Drohnen zu kapern oder die Möglichkeit, tote Gegner zu tarnen, lassen sich für das ganze Roster an Charakteren freischalten.

Die Entwickler von Ubisoft karikieren hier ihren eigenen Gameplay-Ansatz, in dem sie durch die allgemeine Verfügbarkeit ihren besonderen oder auch völlig gewöhnlichen zufallsgenerierten Charakteren die Bedeutung nehmen.
Ja, ich kann einen Hypnotiseur spielen, oder eine kugelsichere Oma. Aber diese Fähigkeiten fühlen sich eher wie minimale Prozentuale Verbesserungen an, als wie spielverändernde Charaktereigenschaften. Und genauso ist auch das Missionsdesign aufgebaut.
Auch die persönlichen Missionen der Charaktere zu deren Rekrutierung strotzen nicht vor Abwechslung. In bekannten Arealen erledige ich kurze, mit einer kleinen Geschichte versehenen Aufgaben und erhalte anschließend im Kampf gegen das unterdrückerische Privatmilitär von Albion oder die Verbrechner von Klan Kelly.
Man muss dem Spiel zugestehen, das sich so gut wie jede Aufgabe auf unterschiedliche Herangehensweise lösen lässt, doch die Konsequenz des eigenen Handelns lässt dabei zu wünschen übrig. Egal ob ich zunächst versuche, schleichend durch ein Gebiet zu kommen und entdeckt werde, oder aus der Ferne Gebrauch von den umfangreichen Hacking-Mechaniken mache, am Ende durchquere ich ein beliebiges Areal, teils sogar mehrmals im Spielverlauf, hacke eine Konsole, und schieße mir im schlimmsten Fall den Weg frei.
Die einzige Ausnahme sind hier ganz bestimmte Story-Missionen, und auch auch diese bleiben nur im Gedächtnis, wenn man den optionalen Permadeath-Modus aktiviert hat und seine Charaktere wirklich dauerhaft verlieren kann.
Hinzu kommt, das eine gewaltsame Vorgehensweise oft viel zeit spart. Das ist in anderen spielen, in denen man sich zwischen schleichen und schießen entscheiden kann, oft nicht anders, wäre hier aber zumindest wunderbar mit Nachteilen zu versehen gewesen.

Legions Nemesis
Denn in der Theorie pflegen die Zufallsgenerierten Bewohner Londons untereinander Beziehungen, sind befreundet und verbringen zeit miteinander. In seltenen Fällen wird man sogar Zeuge einer solchen Interaktion. Dieser Mechanik folgend entwickeln einzelne Londoner auch Gefühle gegenüber der eigenen Organisation, DedSec, und sind dementsprechend schwerer oder leichter zu rekrutieren.
Bei einer solchen Spielmechanik ergibt sich am Ende im besten Fall ein komplexes Netz aus Zusammenhängen, Bekanntschaften und Aha-den-kenn-ich-doch Momenten. In der Realität ist davon in Watch Dogs: Legion nichts der Fall.
In meinem Durchgang habe ich mit Sicherheit eine annährend vierstellige Zahl von Londonern unterschiedlicher Zugehörigkeit über den Haufen geschossen, und unzählige mehr überfahren, und dennoch hat kaum ein NPC eine größere Abneigung gegen mich, beziehungsweise meine Figuren entwickelt. Gut, man mag argumentieren, das in London ja Millionen von Bürgern leben, und Korrelationen deshalb unwahrscheinlich sind, aber dennoch komm ich nicht umhin, mich über diese vertane Chance zu ärgern.
Zumal es die Shadow of Mordor Reihe von Monolith mit dem eigenen Nemesis-System ja bereits vorgemacht hat. Darin sterben Charaktere, erinnern sich an die Narben, die ich ihnen zugefügt habe, schwören mir die Treue und verraten mich, und schaffen es eine eigene Persönlichkeit zu besitzen, obwohl es sich lediglich um Orks handelt.

Charme, wo bist du nur?
Was die Persönlichkeit angeht, ist die Chance in Watch Dogs: Legion einen stimmigen Charakter zu rekrutieren, ohnehin geringer als ein Sechser im Lotto. Denn die Möglichkeit, absolut jeden spielen zu können, kommt mit einem Preis, welcher viel zu hoch ist. In Sachen Charakteranimation und technischem Unterbau erinnert Legion oft eher an ein Spiel aus dem Jahre 2013, dem Beginn der Konsolengeneration, als an deren Ende.
Watch Dogs: Legion kommt sogar für XSX und PS5, und dennoch bringen die Zwischensequenzen in In-Game Grafik nicht das kleinste bisschen Atmosphäre rüber.
Die steifen Animationen, die asynchronen Lippenbewegungen und absolut nicht zueinander passenden Dialogzeilen, Persönlichkeiten und Interaktionen machen jedes Gespräch zu einer einzigen und absoluten Qual. Die Ursprungsfassung von Mass Effect: Andromeda war dagegen ein technisches Meisterwerk. In den Dialogen können somit lediglich die Charaktere etwas glänzen, welche von der, in Grundzügen, durchaus spannenden Story um die Aufklärung von Londoner Anschlägen festvorgegeben sind, wie etwa der KI-Helfer Bagley, eine übersarkastische Version von Jarvis aus dem Marvel-Universum.
Unsaubere Stadt
Und auch ansonsten glänzt Legion nicht grade mit der Technik. Halb London scheint beispielsweise an einem kollektivem Todeswunsch zu leiden, da sämtliche Einwohner lieber vor die Autos springen, anstatt von ihnen weg. Animationen brechen einfach ab, und insgesamt machte das sonnige San Francisco des zweiten Teils einfach einen runderen Eindruck als sein verregneter Nachfolger.
Ein Lob ist zumindest in Teilen der Kampf-AI zuzusprechen. Kommt es zur Konfrontation, flankieren die bewaffneten Gesellen den eigenen Charakter intelligent und setzen ihn gut unter Druck, was besonders bei dauerhaftem Tod zu der einen oder anderen kritischen Situation führen kann.
Insgesamt ist die technische Darstellung aber vielleicht mein größter Kritikpunkt am Spiel. Ich könnte über Dinge wie die fehlende dramaturgische Inszenierung oder eine gewisse Beliebigkeit im Gameplay, welches im Kern ja Spaß macht, sogar noch hinwegsehen, wenn das ganze zumindest rund laufen und London endlich einmal im verdienten, besten Licht präsentieren würde.
Und dennoch darf man durchaus den Hut vor Ubisoft ziehen, wenn auch nur für den Mut, in den staubigen, ausgetretenen Wüsten des Open-World Genres etwas neues zu versuchen. Dinge wie Legions Play-Anyone Prinzip oder das Emotionsrad eines Red Dead Redemption 2 sind der nächste Schritt zu mehr Interaktion mit der Spielwelt und damit langfristig zu deutlich mehr Immersion. Deshalb, liebe Entwickler, hört nicht auf diesen Weg zu gehen, auch wenn ihr, wie hier, manchmal stolpert.